17 Ratsmitglieder haben heute den Haushaltsentwurf der Stadt Lingen (Ems) für das Jahr 2023 abgelehnt. Nur 22 aus der Gruppe CDU-FDP und der OB stimmten mit Ja, vier Ratsmitglieder fehlten. Ein (fast) historisches Ergebnis. Mit Nein stimmten jeweils geschlossen die BürgerNahen, die Fraktion von Bündnis’90/Die Grünen mit der FWL und die SPD-Vertreter, um sich zeitgleich von der CDU/FDP-Gruppe und OB Krone anzuhören, dass ihre Kritik unberechtigt sei und sie sich an beide hätten wenden müssen, um „im Gespräch außerhalb der Ausschusssitzungen“ mehr von den eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Die nämlich hatte die CDU/FDP-Gruppe in den Asschussberatungen zuvor fast vollständig abgelehnt. Mit dieser Art des „Victim-Blaming“ überzeugte die müde wirkende Ratsmehrheit aber inhaltlich nicht.
Robert Koop, Fraktionschef der Fraktion „Die BürgerNahen“, hatte zuvor das Votum der BN so begründet:
„(Anrede)
Lassen Sie mich -in der gebotenen Kürze- unsere Stellungnahme zum Haushalt abgeben:
1. Wir wissen sehr wohl, dass eine Haushaltssatzung nicht automatisch dazu führt, dass sich binnen eines Jahren die Verschuldung der Stadt um 36 Mio Euro erhöht. Aber dies kann der Fall sein. Und hinzu kommen die noch offenen Kreditermächtigungen aus 2021 und 2022 in Millionenhöhe. Eine solche Etatwirtschaft ist nicht richtig.
2. Sie geht einher mit einer enormen Ausweitung des Personaletats. Alles in allem übersteigen die Personalkosten aktuell geradezu unerhörte 35 Millionen Euro – rund 6 Millionen mehr als noch 2021. Zur Erinnerung: Das Jahr 2021 liegt gerade einmal 15 Monate zurück. Diese Politik nimmt die Kraft zu Investitionen. Das ist falsch.
3. Wir halten auch den Beschluss für grundfalsch, den Etat zu einem Großteil mittels sogenannter Liquiditätsdarlehen auszugleichen, die ja in Wahrheit Kontokorrentdarlehen sind. Das nämlich höhlt das Kontrollrecht des Rates aus. Nicht mehr ein Darlehen wird aufgenommen sondern der OB erhält einen erheblichen Freiraum, die Stadt zu verschulden, ohne dass dem Rat die genauen Konditionen bekannt sind. Diese Art der Verschuldung steht mit 40 Millionen Euro im Beschlussvorschlag. 40 Millionen ! Das ist doppelt so viel wie in den letzten Jahren und bereits das war nicht in Ordnung.
4. Auch der Haushalt der zu 100% städtischen Grundstücks- und Erschließungsgesellschaft macht uns große Sorge. Die Gesellschaft schiebt Darlehen von 22 Millionen Euro vor sich her Das ist der Stand vom 31.12.2021, also nicht einmal aktuell. Der Haushalt enthält trotzdem keinen Vorschlag, diese Gesellschaft zu entschulden, obwohl allein die Schuldenlastfür 22 Mio Verbindlichkeiten den Etat dieser Gesellschaft mit knapp 1 Mio Euro Zinsen belasten wird.
5. Auch in diesem Jahr sind wieder fast alle Sachanträge der BürgerNahen abgelehnt worden.
Erfolgreich war dabei allerdings die fraktionsübergreifende Balkonkraftwerk-Initiative der BN und der Grünen für mehr Photovoltaik. Allerdings ist die Zielgruppe natürlich eine andere als die, die wir als BN vor Jahresfrist vorgeschlagen haben: Die BN wollte arme Lingener Haushalte entlasten und ihnen kostengünstig, quasi zum Nulltarif Balkonkraftwerke zur Verfügung stellen,. Das ist damals abgelehnt worden. Jetzt kommen zwar Balkonkraftwerke, aber nur für solche Haushalte, die mal eben einige Hundert Euro ausgeben können. Das ist zwar nicht schlecht, aber der erste BN-Vorschlag war besser und da müssen wir auch wieder hin.
Ohnehin reicht das Ja zu Balkonkraftwerken oder auch zu Großbaumverpflanzungen ebenso wenig aus, zu überzeugen, wie die Annahme des rein organisatorischen Vorschlags der BN, für 2024/2025 einen Zweijahreshaushalt aufzustellen. Damit können wir dann den Haushalt 2026 wieder zum Jahresbeginn vorlegen, so wie es das Gesetz verlangt und wie es auch notwendig ist, um nicht erst dann die Etat-Investitionsmittel zur Verfügung haben, wenn nach Genehmigung des Haushalts das Jahr zur Hälfte oder drei Viertel rum ist.
Abgelehnt wurden leider auch alle Perspektivanträge der BürgerNahen.Also die Anträge, etwas für die Zukunft zu tun.
Geradezu körperlich unangenehm und statisch empfinden wir dabei das Nein zu der von uns vorgeschlagenen Stabsstelle Gesundheitsförderung – angesichts der drängenden Sorgen im Bereich der Gesundheitsförderung und ärztlichen Versorgung muss die Kommune so schnell wie möglichhandeln. Weil dieser Antrag so wichtig und ein Herzensanliegen war und ist noch einmal die Formulierung:
Lingen braucht angesichts seiner Größe und immer weiter steigender, vielfältiger gesundheitlicher Problemstellungen unterhalb der Landkreisebene eine qualifizierte örtliche Ansprech- und Clearingstelle zur Gesundheitsförderung.
Ihre Aufgaben sollen Sicherung und Verbesserung der ärztlichen und fachärztlichen Versorgung in der Stadt sein, der Kontakt und die Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern, gesetzlichen Krankenversicherungen, Ärztevereinen, Apotheken und Kammern, betriebsärztlichen Stellen, Hilfsorganisationen sowie die Prävention – auch in Zusammenarbeit mit dem Behindertenbeauftragten und der Gleichstellungsbeauftragten und von Vereinen, die sich um Menschen kümmern, die infolge ihres seelischen Zustandes auf die Hilfe anderer angewiesen sind.
Die Stabsstelle soll gesundheitsfördernde Entwicklungsprozesse in der Stadt anstoßen, koordinieren und begleiten, insbesondere in Kitas und Schulen sowie Senioreneinrichtungen. Sie soll die Stadtplanung aus gesundheitspräventiver Sicht begleiten, insbesondere mit Bereitstellung/Unterhaltung von Sport- und Grünflächen, Fahrrad- und Fußwegen etc. Sie soll Vereine fördern (insbesondere Sportvereine) zur Gewährleistung niedrigschwelliger Zugänge zu Bewegungsangeboten unddie Schaffung von Bewegungsgelegenheiten, -räumen und sonstigen infrastrukturellen Voraussetzungen für Bewegung (z. B. Fahrradstellplätze, Umkleidemöglichkeiten) anregen und fördern.
Sie soll Gesundheitsnetzwerke bilden und fördern sowie MultiplikatorInnen gewinnen.
Und was ist bei dieser Initiative herauskommen? Erst einmal der nicht sonderlich intelligente Versuch des OB, das Thema in der nicht-öffentlichen Sitzung verschwinden zu lassen, weil es ja um eine neue Stelle im Rathaus gehe. Da aber gehört es natürlich überhaupt nicht hin. Dann wurde der Antrag abgelehnt, weil doch der Landkreis für das Gesundheitsamt zuständig sei und man ggf. für die Ansiedlung von Ärzten Wirtschaftsförderungsmittel einsetzen werde.
Doch stell dir bloß vor, du bist krank und musst nach Osnabrück oder Münster, Oldenburg oder gar Bremen, um mit einem Doc zu sprechen. Das ist leider die Realität, weil wir uns nicht vorbereiten, da Andere zuständig sein sollen. Ich frage: Auch für und in Lingen?
Wenn ja, dann sagt das bitte öffentlich den Menschen in Lingen, die unter der unzureichenden Gesundheitspolitik im wahrsten Sinne leiden. Keiner der Punkte, die wir vorschlagen wird jedenfalls aktuell vom Landkreis gelöst oder angegangen. Was wir vorschlagen, fehlt bisher völlig und muss unterhalb der Landkreisebene für unsere Stadt mit den vom OB immer wieder zitierten „knapp 60.000 Einwohnern“ angegangen werden. Die Ratsmehrheit aber nimmt diese, sich aufdrängenden Notwendigkeiten leider aus dem Blick.
Abgelehnt wurden auch unsere BN-Vorschläge für Machbarkeitsstudien, etwa die für den vom Rat beschlossenen zweiten, barrierefreien Zugang zum Bahnhofsgleis 2, zur Verbesserung der Bahnverbindungen nach Westfalen und Osnabrück, der LiLi-Busse und die deutliche Verbesserung des Engagements für Europa. Zu allem Nein. Und unsere BN-Punkte zur Verbesserung des Fahrradverkehrs allesamt ebenso.
Mit diesen Nein gibt die Ratsmehrheit Entwicklungsmöglichkeiten aus der Hand, die für unsere Stadt wichtig sind. Unlängst hat der OB gradezu vorwurfsvoll an unsere BN-Adresse formuliert, man brauche für eine Verbesserung des Zugverkehrs „viel mehr Zeit“. Das habe er jetzt in Münster bei Gesprächen um besseren Nahverkehr gesehen. Seine Aussage war erkennbar keine Selbstkritik, weil er der Verbesserung keine Priorität eingeräumt hatte und einräumt. Er kritisierte stattdessen uns, die wir auf die offenkundigen Defizite hinweisen. Bei so viel achselzuckender Resignation schlagen wir demOBein Praktikum bei seinem Nordhorner Amtskollegen vor. Der zeigt nämlich, wie es mit dem Zugverkehr so gehen kann, und dass man sich mit dem IST-Zustand nicht abfinden darf. Um ihn zu ändern und zu verbessern, muss nämlich irgendwann anfangen. Endlich anfangen.Alles andere ist Stillstand und Stillstand ist, worauf der Ratskollege Hermann Gebbelen (CDU) oft hinweist, schlecht.
Wie die Verbesserung bei der Bahn in Ost/West-Richtung zeigt, ist das natürlich völlig falsch. Wenn der Zugverkehr aus den Niederlanden Richtung Berlin schneller wird, werden das Emsland und auch unsere Stadt einmal mehr abgehängt, gnadenlos abgehängt und zwar deshalb, weil es keine Vorschläge gibt und weil Sie und der OB solche auch nicht einmal entwickeln lassen wollen.
Die Menschen in Lingen brauchen jedenfalls die Änderungen im Verkehrswesen, zumindest schon aus Klimagründen. Apropos Klima: Dazu enthält der Etat 2023 fast nichts. Auch der Hinweis des Kollegen Gebbeken, auf der EmslandArena würden nun Photovoltaik installiert, bestätigt dies. Es ist ein Investment der Stadtwerke, nicht der Stadt.
Der Weltklimarat hat in dieser Woche unterstrichen, dass es nicht mehr 5 vor 12, sondern später ist. Der OB ernennt uns zwar gerade zur Wasserstoffhauptstadt. Das aber machen ganz viele andere Städte auch. Googlen Sie mal Wasserstoff und Hauptstadt. Wasserstoff ist zu begrüßen, aber es reicht nicht aus. Dabei opfern wir gleichzeitig Klimaziele oder einfach auch wichtige Ressourcen., zum Beispiel unsere Bäume. Reihenweise fallen sie wegen ihres wichtigsten Attributs, der Beschattung, zum Opfer. Wie jüngst am Christophoruswerk. Auch das standen sie auf privatem Grund und wir als Stadt verhinderten die Fällarbeiten einfach nicht, weil sie angeblich die PV-Anlage beschatteten. Damit sägen wir mit. Wohin führt das? Wann entschließen wir uns zu effektiven Schutzmaßnahmen? Wie lange lassen wir das Fällen der Bäume zu, weil sie vermeintlich im Weg stehen. Welch doppelte Moral!
6. Zum Abschluss noch dies: Ich bedanke mich beim OB für eine gewonnene Flasche Wein. Sie, Herr OB hatten nämlich i vergangenen Jahr informell meinen Fraktionskollegen erklärt, die BN habe in 2022 „viel zu viel“ gefordert. Nur deshalb seien alle Punkte abgelehnt worden. Wenn sich die BN aber auf „10-12 gute Vorschläge“ beschränke, werde das völlig anders aussehen. Dann werde die Ratsmehrheit den Vorschlägen zustimmen. Da habe ich sehr geschmunzelt, als ich das hörte, und dann um eine Flasche guten Spätburgunder gewettet, dass das Nein der Ratsmehrheit genau so bliebe, auch wenn wir unsere Vorschläge auf 10-12 beschränkten,
Was soll ich sagen, ich habe recht behalten. 12 BN-Vorschläge und 9 mal Nein. Sie sagen nämlich immer Nein und dies nur deshalb, weil die Vorschläge von der BN kommen.
Was wir daraus heute schlussfolgern, ist damit klar:
Diesem Etatwerk können wir nicht zustimmen. Dafür ist er nicht gut genug. Nicht ansatzweise. Wir lehnen den Beschlussvorschlag daher ab. „
Spoiler:
Zu unserem Antrag Gesundheitsstab meinte übrigens FDP-Mann Jens Beeck, dass die gesundheitliche Versorgung in Lingen so gut sei, wie nirgendwo anders in der Region „und in Niedersachsen“. Er lobte sie damit über den grünen Klee. Wird das die Menschen freuen und überzeugen, die Probleme mit ihrer Gesundheitsversorgung haben?
Links zum Etat der Stadt Lingen (Ems) 2023:
Kommentar verfassen